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Der Hype überdauert die Gartenzwerge

Beim Wandeln durch Wittenberg bei Nacht steht man nun endlich keinem gruseligen Heer von Luthergartenzwergen gegenüber, doch wer denkt, damit wär der peinliche Hype erledigt, irrt:

„Für Stefan Rhein, Leiter der Geschäftsstelle Luther 2017 in Wittenberg, stand das Fazit seines Besuches beim Kulturausschuss des Bundestages schon vor dessen Sitzung fest: „Die Botschaft ist, dass der Bund das Thema Reformationsjubiläum als nationales Anliegen versteht.“ So kam es dann auch: Mit 35 Millionen Euro will Berlin das Jubiläum unterstützen. “ (MZ online)

Jährlich 5 Millionen Euro mehr können so ausgegeben werden, um eine ganze Stadt in allen Facetten zur Lutherstadt zu machen.
So wird weiter gefeiert, nicht zu Unrecht sieht man sich als rechtmäßige Erben des großen Reformators. In diesem Sinne wird jährlich in Lumpen durch die Stadt gezogen und die Zivilisation verpönt. Luthers Thesenanschlag wird in Wittenberg als Knackpunkt der deutschen Geschichte wahrgenommen und die Abspaltung der evangelischen Kirche als Meilenstein der Emanzipation begriffen. Luthers Gedanken zum mündigen Individuum sehen um einiges anders aus:

„Drum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann, denn ein aufrührischer Mensch. Gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss …“ (Luther -1525, Tomos 3, S. 124)

Von dieser Gefahr des kritischen Denkens ist Wittenberg weit entfernt. Neue Ausmaße erreicht der Personenkult mit der Lutherdekade, welche die Stadt bis 2017 beseelen soll. So verwandeln sich nun auch die wenigen Orte, die bisher vom Lutherpathos verschont blieben, beispielsweise in einen Luthergarten.

„Dagegen [gegen die Renaissance; Z&D] hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die außerordentliche Verflachung und Veräußerlichung des religiösen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmute empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heißt ein katholisches Christentum der Notwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten.“ (Friedrich Nietzsche – Renaissance und Reformation)

So ist der kleinste gemeinsame Nenner aller politischen und kulturellen Akteure des Städtchens nicht nur die Heroisierung eines erbitterten Antisemiten, sondern damit die Verdammung des Fortschritts und der Aufklärung. Der Fokus auf Luther verdeutlicht, dass zum Beispiel das humanistische Gedankengut seines Zeitgenossen Philipp Melanchthon kaum gewürdigt wird.
So erkennt sogar Landesbischof Dr. Johannes Friedrich:

„Und darum hat sich Melanchthon auch nachdrücklich – im Unterschied zu den
meisten seiner Zeitgenossen – für die Juden eingesetzt und ihre Ansiedlung in
Brandenburg unterstützt. Die Wertschätzung ihrer Sprache und ihrer Kultur und damit
auch der Menschen jüdischen Glaubens gehört zur Bildung[…]“.

Doch in Wittenberg wurde, offiziell durch eine Fusion mit dem Martin-Luther-Gymnasium, das ehrwürdige Philipp-Melanchthon-Gymnasium geschlossen. Wen wundert, dass die Bürger Wittenbergs gemeinsam hinter ihrem großen Helden stehen, dessen Erbe keinerlei Anforderung in Sachen Aufklärung beinhaltet, wie es bei progressiven Geistern der Fall wäre. Wen wundert da, dass die Wittenberger ihren Luther als Exportschlager begreifen:

„Um in Berlin ständig 2017-Flagge zu zeigen, wird die Stadt Wittenberg dem Bundestagspräsidenten noch in diesem Monat übrigens einen Lutherbotschafter verehren – einen schwarzen, versteht sich. “ (MZ-online)