Thinking about struggle

Samstag 19.11. – 14 Uhr – Harold & Maude, Sternstraße 14, Lutherstadt Wittenberg

Die Kämpfe von Geflüchteten, der vertrackte Umgang mit der Ideologie und dann auch noch die Umsetzung des Protestes in Kunst – an diesem Rundumschlag versuchen wir uns mit einer Veranstaltung am 19.11. in Wittenberg. Weshalb denn in Wittenberg? Wie in vielen anderen Orten häufen sich auch hierNaziübergriffe, wie auch in der Regionalzeitung nachvollzogen werden kann:

„Fünf Deutsche sollen in der Nacht zum 14. April (Donnerstag) Woche in der Wittenberger Lerchenbergstraße in die Wohnung eines 23-Jährigen aus Eritrea eingedrungen sein und den Mann mit Fäusten traktiert haben.“ (Mitteldeutsche Zeitung, 27.04.16)

„Eine Männergruppe hat in Wittenberg auf einen Mann aus Burkina Faso eingeschlagen und ihn ausgeraubt. Die fünf unbekannten Täter verletzten den 34-Jährigen so schwer, dass er stationär behandelt werden musste.“ (Mitteldeutsche Zeitung, 02.05.15)

„Einer der beiden Tatverdächtigen forderte mit einem Messer, von dem 34-Jährigen die Herausgabe von Bargeld, der dies jedoch verweigerte. Der zweite Tatverdächtige soll daraufhin ein Beil aus seinem Rucksack genommen haben. Durch beide Tatverdächtige wurden die beiden Somalis währenddessen ausländerfeindlich beleidigt und angespuckt.“ (Mitteldeutsche Zeitung, 21.09.16)

Damit reiht sich die Stadt ein in eine lange Liste von Orten, in denen die rassistische Stimmung in die brutale Tat umgesetzt wird. (Aktuelle Ereignisse des Landes sind dokumentiert im Artikel „Eskalation in Sachsen-Anhalt) Aktuell wird diskutiert, ob Flüchtlinge in Wittenbeg noch sicher wohnen können (Vgl. MZ-Artikel).
Auf der anderen Seite bestehen, wie vielerorts auch hier Zusammenschlüsse, die Geflüchtete unterstützen oder sich gegen Rassismus engagieren. Das Engagement von Einzelnen entschuldigt jedoch keineswegs die dahingehenden Defizite der staatlich organisierten Versorgung. Hinzu kommen systematische Schikane und Entrechtung durch Politik, Behördern und Polizei. Die eklatant mangelhafte Versorgung von Ankommenden und die Verschärfungen des Asylrechts (hier dokumentiert), die jeweils allein schon einen Skandal darstellen, sind Grund genug für Protest von allen, die dies mitbekommen. Doch viele „Supporter“ sind es nicht, die sich gemeinsam mit den Betroffenen empören. Vielmehr nimmt ein beachtlicher Teil der Deutschen jegliche Forderungen als „dreist“ wahr und wittert eine Bevorzugung der Flüchtlinge. Einer solchen gesellschaftlichen Stimmung, die sich nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen der AfD artikuliert, ist nur schwer etwas entgegenzusetzen. Die Veranstaltung ist ein Versuch.
Lisa Thomas und Arash Dosthossein, die an den 2012 von Würzburg ausgehenden Refugee-Protesten beteiligt waren, stellen in einem Erfahrungsbericht dar, was sie dazu bewegt, Forderungen aufzustellen und diese in die Öffentlichkeit zu tragen. (Einige Positionen können bereits in diesem Artikel von Lisa Thomas nachgelesen werden.)
Im Anschluss gibt es einen Workshop, in dem die Teilnehmenden rechtes Gerede zur Debatte stellen können. Einzelne Aussagen werden auf Zetteln notiert und in ein Lostrommel geworfen. Daniel Kulla wird Entgegnungen vorstellen und erklären, wie die Aussagen und die mit ihnen verknüpften Weltbilder funktionieren.
Abschließend soll es um die praktische Seite von Prostest gehen. Ein Referent vom Graffitiarchiv stellt in seinem Vortrag den Zusammenhang von Graffiti und politischen Forderungen dar. Zusätzlich wird es eine Graffitiwand geben, an der Interessierte sofort loslegen können.

Denn was und wie man uns kaputt macht, ist auch etwas, das uns eint. 1

Die Begriffe, die das uneingelöste Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft einst ausbuchstabierten, fallen der Relativierung zum Opfer. Freiheit und Gleichheit, an deren praktischer Verkehrung Marx noch ansetzen konnte, sind heute selbst als Begriff entwertet. Was als Ziel des Einzelnen bleibt, der sich mit Unfreiheit und Ungleichheit als „alternativlos“ abgefunden hat, ist das private Glück als privat ersehntes. Das heißt, es wird völlig subjektiv und damit ohne gemeinen Inhalt gedacht. Eine objektive gesellschaftliche Ebene der Emotion Glück und ihrer Ursachen, ein allgemeiner Begriff von Glück, diffamierte die Verhältnisse als steter Quell von Hilflosigkeit, aus deren Erfahrung die Ohnmacht sich speist.
Im August 1941 schrieb Adorno an Horkheimer als Kommentar zu dessen Aufsatz über Neue Kunst und Massenkultur:

„Etwa, wie wenn man, verlassen auf einer Insel, verzweifelt einem davonfahrenden Schiff mit einem Tuch nachwinkt, wenn es schon zu weit weg ist zum Rufen. Unsere Sachen werden immer mehr solche Gesten aus Begriffen werden müssen und immer weniger Theorien herkömmlichen Sinnes. Nur daß es eben dazu der ganzen Arbeit des Begriffs bedarf.“ — Adorno an Horkheimer, 21. 8. 1941, in: HGS 17, S. 153

Es gab Zeitfenster, in denen es realistisch erschien, selbst den Kurs des Schiffes zu setzen. Die Theorie, die hätte hegemonial werden können, fand sich bei Marx. Doch diese Situation ist nur mehr Erinnerung und die Neue zwingt die Theorie zu einer gänzlich anderen Haltung. Es kann nicht mehr darum gehen, große Konzepte aufzufahren, deren Schöpfer man heute für anmaßend halten muss. Die Einspruch implizierenden Begriffe zu bewahren und zu entwickeln, für die Möglichkeit, diese als Bausteine für Praxis nutzbar machen zu können, ist adäquat. Diese Begriffe beinhalten und reproduzieren die Widersprüche des Falschen, aber sie können sie eben auch zu Tage treten lassen. So arbeiten sich die „Gestrandeten“ (die doch nie aus der Gesellschaft gelöst sind) ab an der Ideologie, in der Hoffnung, sie möge Brüche und Risse davon tragen.
Die Geste, das Nachwinken, sollte in dem Augenblick und an dem Ort erfolgen, an dem möglichst viele Augen der mehr oder minder blinden Passagiere auf diese Geste gerichtet sind. Das heißt, gerade dort, wo der größte Schindluder getrieben wird, kann der Ideologie zugesetzt werden. Nun ist die perfideste Baustelle kapitalistischer Verdrehung: das Glück.
Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, so appelliert das Kapital an die Arbeitsmoral aller Beteiligten. Wer weniger abbekommt, hat sich nicht genug Mühe gegeben und wer reich ist, war asozial gierig. So werden die bürgerlichen Kümmerformen von Gleichheit und Freiheit schon früh verstanden. Der oftmals fragile materielle Wohlstand ermöglicht feine Sachen wie Komfort, Bildung oder bessere Gesundheit. Doch der aristokratische, zum schöngeistigen befähigende Müßiggang eines Marcel Proust findet sich nur noch selten. Um seinen Lebensstandard zu halten ist der Kapitalist sowohl gezwungen, das Kapital zu investieren, anstatt es zu verfressen, als auch die Produktion auf die aktuelle Nachfrage auszurichten, anstatt die Ziele frei zu diktieren. Offenbar zwingt die Akkumulation alle Beteiligten in ihre mehr oder minder verschleißenden Rollen.

„Er [der bürgerliche Mensch, J.B.] produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge, aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber: sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. […] Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehört.“– Erich Fromm: Zum Gefühl der Ohnmacht in Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 6, 1937, S. 95)

Hilflos gegenüber dem Produkt sind die Produzenten nicht durch die Entfremdung, die notwendig ist, um allgemeine Versorgung effizient zu gestalten. Die angesprochene Drohung ist die, nicht mehr versorgt zu sein. Subjektiv wahrgenommen wird diese Hilflosigkeit als Ohnmacht.
Erich Fromm hielt das Gefühl der Ohnmacht für derart wichtig, dass er vorschlug, die Neurose von der (oft unbewussten) Ohnmacht her zu greifen. Nun kann nach der Aktualität gefragt werden: Die in den Text eingeflossene Erfahrung stammt aus einer Zeit, in der gerade etwas Schlimmes in Deutschland passierte, was noch nicht so recht zu fassen war; die vorangehenden Jahrzehnte aber eben auch emanzipatorische Momente enthielten. Und wie zweifelhaft deren inhaltliches Potential auch gewesen sei: Zusammenschlüsse zum tätlichen Aufstand konnten sich mitunter tagelang zur Wehr setzen. Es waren vielleicht keine Sprungfedern zur Transformation der Gesellschaft, doch politische Einmischung hatte noch Resonanz. Heute sind die Erfahrungen nahezu gänzlich frei von dieser Resonanz des Selbstbewusstseins. Wo Gesellschaft seit dem tatkräftig umgestaltet wird, geschieht dies gerade gegen individuelle Freiheit und abseits von der Hoffnung auf irdisches Glück. Die Nazis hatten, so musste in den Jahren nach Erscheinen von Fromms Text schrittweise eingesehen werden, die Unmündigkeit bereits zur Prämisse. Verfolgt wurde die mimetische Erfahrung, wie das Schwelgen im Duft, als auch alles, was an Rechte und Freiheiten des Einzelnen erinnerte. Die Gotteskrieger von heute trachten ebenso nach Auslöschung des individuellen Glücks. Ihre Resonanz ist das Ohnmachtsgefühl im nach Freiheit strebenden Subjekt.
Doch zurück zum Versuch, den Davonfahrenden zu winken, die ihr Schiff am laufen halten, ohne aufzublicken. Die erwähnte Geste muss so gestaltet sein, dass sie die Verhältnisse mit bitterer Klarheit denunziert. Sie soll bewusst machen, wie die größten Widerwärtigkeiten als natürlich, notwendig oder gar erstrebenswert dargestellt werden. Zu attackieren ist die Reklame um das Glück, da in diesem Wort einst steckte, was die Aufklärung trieb: Glück hat letzten Endes Code zu sein für die Überwältigung der Hilflosigkeit, die Bemächtigung der eigenen Möglichkeiten. Teil dessen ist der objektive Anspruch, Gesellschaft bewusst vernünftig einzurichten. So weit zur Lage auf dem Schiff.
Das Subjekt kann zwei Ausprägungen von Glück erfahren: das aktive Vorgehen gegen die Hilflosigkeit, welches Ohnmacht verdrängt, ruft somit aktives Glück hervor. Das Sich-hingeben an eine Erfahrung, von der man sich überwältigen lässt, ist wiederum eine passive Form. Hier stellt sich das Subjekt gegen die rastlose Geschäftigkeit, welche von der Ohnmacht hervorgerufen wird. Die Hilflosigkeit bleibt, doch die Ohnmacht kann in der sinnlichen Erfahrung temporär auf Eis gelegt werden.
Dass die Welt, wie sie aktuell eingerichtet ist, sehr vielen Leuten nicht Zeit und Mittel lässt, sich sinnlichen Erfahrungen zu widmen, ist objektive Hilflosigkeit. Täglich ist offenbar, wie widerwärtig Kapital und Staat das Leben zurichten, wenn nicht gar beenden. Wir wissen genug darüber, wir müssten es nur begreifen. Ein vorscheinhafter Begriff von Glück, der sich abstößt von oktroyierter Ohnmacht, kann die Geste sein, die ein mehr als angebrachtes Entsetzen an Bord hervorruft. Denn die reale Quelle der Ohnmacht, die systematische Hilflosigkeit, ginge daraus als anzugreifender Punkt hervor.
Doch wenn die Theorie dem Hoffen auf ein Wunder durch blanke Aktivität geopfert wird, so geht es nicht gegen die Ohnmacht, sondern in ihre Perfektionierung:

Man verzichtete darauf, zu wissen, was man ändern wollte und wie man es abändern könnte, und glaubte, daß irgendein Umschwung, auch wenn man ihn seinem Inhalt nach gar nicht bejahte, besser sei als gar nichts und zum mindesten die Möglichkeit in sich berge, das zu vollbringen, woran die eigene Anstrengung gescheitert war. Diese Hoffnung auf einen Umschwung, wie immer er auch geartet sei, war der Nährboden für das Wachstum der zum Siege des autoritären Staates führenden Ideologie.“ — Ebd., S. 102

Gerade das diffuse, privat ersehnte Glück und die Vorahnung, dass es verstellt ist, sind potentielle Triebfeder für Panik. Wenn das Individuum die Ausweglosigkeit spührt, ohne sie zu fassen zu bekommen, bleibt nicht viel außer dem Erstarren und der Raserei.

  1. Der Titel ist dem Lied „DMDKIULIDT“ der Gruppe Ja, Panik! entliehen. [zurück]

Podiumsdiskussion: Notwendigkeit und Schwierigkeiten der Assoziation

Über materialistische Staatskritik und Kampf um Produktionsmittel am Beispiel der argentinischenempresas recuperadas

20. Februar 2016 — 19 Uhr
Reilstraße 78 — Halle (Saale)

Es diskutieren:

  • Anna Kaltenbach (Juristin)
  • Jörg Finkenberger (Das grosse Thier, veröffentlichte kürzlich „Staat oder Revolution“ im ça-ira Verlag)
  • Jacop Belbo (AK Zweifel und Diskurs)

Die ökonomische Notwehr der Akteure ist der politische Hoffnungsschimmer ihrer linken Fans – zu Recht? In Argentinien gibt es inzwischen Hunderte, dem Vorbesitzer abgerungene, instandbesetzte, „genesene“ Betriebe. Sie entspringen keinem planvollen Vorgehen, sondern der spontanen Aktion von Produzierenden mit Aussicht auf Arbeitslosigkeit mit einhergehender Verarmung. Zunächst übernimmt die Belegschaft ihren maroden Betrieb aus Verzweiflung, um nicht völlig ohne Auskommen dazusitzen. Doch mit dem selbst-organisierten Produzieren liegt die Verfügungsgewalt über die Maschinen plötzlich bei den Produzierenden.

Eine Gesellschaft ohne Klassen und Staaten wird schließlich nicht in einem verwunschenen Moment aus der dünnen Luft entstehen. Eine befreite Gesellschaft ist nicht als errungener Zustand am Ende der Revolution zu denken, sondern nur als ein unendlicher Prozess. Kein Übel der alten Gesellschaft verschwindet durch Zauberhand. Keine Instanz garantiert ggf. die Fortdauer der besseren Verhältnisse. Das Festhalten an der aktuellen Einrichtung garantiert jedenfalls, dass die Katastrophe immer weiter eskaliert.

Doch je mehr die kämpfenden Arbeiter von der bisherigen Organisation abweichen, um so stärker treten die Widersprüche mit ihr zutage, ob als nach innen gewandter Konkurrenzdruck oder als Kampf mit dem alten Staat. Doch sind Fabrikbesetzungen per se schon herrschaftsfeindliche Experimente oder degeneriert die im Grunde abstrakte Vermittlung des Arbeitsmarktes bei solchen Vorhaben zu eingeschworenen Selbstausbeutungs- gemeinschaften?

Die Schwierigkeiten, die mit der Wiederaufnahme des Betriebes verbunden sind, geben einen Aufschluss über die Natur der Gesellschaft, in der wir heute leben, und die Schwierigkeiten ihrer Veränderung. Materialistische Kritik des Staats und der Gesellschaft hat diese Schwierigkeiten zum Gegenstand und hat sich an ihnen zu messen. In erster Linie ist das Aufrechterhalten von Produktion in der Krise Grund genug, dem argentinischen Beispiel zu folgen. Dieser Kampf ist die tastende Suche nach dem Ausweg, er provoziert zwingend die Mündigkeit der Einzelnen, die sich eigenmächtig organisieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Ist die Praxis der Fabrikbesetzung jedoch ein denkbares Mittel der Neuerrichtung der Gesellschaft? Oder ist sie lediglich ein Notbehelf, eine Abwehrmaßnahme gegen die Krisenfolgen der kapitalistischen Produktionsweise? Besteht zwischen beidem überhaupt ein notwendiger Gegensatz? Der historische Moment, in dem wir dieses diskutieren, ist derjenige einer erneuten Weltkrise, in der die Frage der Veränderung auf dringendste, aber keineswegs erfolgversprechendste Weise gestellt ist. Umso dringender ist es, auf der begrifflichen Basis bisheriger Kritik und genauer Betrachtung der konkreten Erfahrungen zu erörtern, welche Schlüsse daraus z.B. im Hinblick auf eine kommende Krise der deutschen Autoindustrie auch im bisher ruhigen Hinterland gezogen werden könnten.

Buchvorstellung: Sin Patrón

Sin Patrón – Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs
Instandbesetzte Betriebe in Belegschaftskontrolle in Argentinien
Vortrag und Buchvorstellung mit Daniel Kulla

4. November 2015 um 19:30 Uhr
Humboldt Universität zu Berlin
Hauptgebäude UL6, Hörsaal 2097

Eine Buchbesprechung findet sich beim großen Thier .

Ankündigung der Veranstaltenden:

Als Argentiniens Wirtschaft 2001 zusammenbrach, führten Tausende Werktätige Betriebe in eigener Verwaltung weiter. Heute gibt es mehrere Hundert solcher Betriebe in Argentinien, zum Teil von der Regierung kooptiert, zum anderen Teil aber weiterhin im Aufstand. In dem Buch, im Original herausgegeben von einem Verlagskollektiv aus Buenos Aires, gibt es Geschichten von zehn Instandbesetzungen, die in Argentinien »recuperación« heißen: Wiederinbetriebnahme, aber auch Genesung. Vorgestellt wird das Buch von Daniel Kulla, der es übersetzt, aktualisiert und mit Praxisanregungen angereichert hat.

»Es mag verwegen anmuten, mit Blick auf das heutige Deutschland an Arbeiterselbstverwaltung und Klassenkampf zu denken. Doch der zuletzt geschürte Hass auf Arbeitskämpfe und Streiks wie bei der Bahn, das Erstarken von Rassismus und Antisemitismus verlangen eine Antwort. Hass und Ideologie blühen so lange, wie Menschen sich nicht als Ebenbürtige behandeln, das ist die Überzeugung hinter den Instandbesetzungen in Argentinien und anderswo.«

Die SPD und Tucholsky

Morgen Nachmittag veranstaltet Hans-Günther Mahr von SPD Mitte einen Spaziergang „[a]uf den Spuren des gebürtigen Moabiters Kurt-Tucholsky“. Tucholsky selbst fände wohl weder den Bindestrich in seinem Namen noch die Vereinnahmung durch die SPD toll. Spontan fallen mir zwei Textstellen ein:

„Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“ – Die Weltbühne, 19. Juli 1932, Nr. 29, Seite 98

In „Ein älterer, aber leicht besoffener Herr“ lässt Tucholsky den Ich-Erzähler trinkend durch das Parteienspektrum der Weimarer Republik wanken:

Denn wak bei die Sozis. Na, also ick bin ja eijentlich, bei Licht besehn, ein alter, jeiebter Sosjaldemokrat. Sehn Se mah, mein Vata war aktiva Untroffssier … da liecht die Disseplin in de Familie. Ja. Ick rin in de Vasammlung. Lauta klassenbewußte Arbeita wahn da: Fräser un Maschinenschlosser un denn ooch der alte Schweißer, der Rudi Breitscheid. Der is so lang, der kann aus de Dachrinne saufn. Det hat er aba nich jetan – er hat eine Rede jehalten. Währenddem dass die Leute schliefen, sahr ick zu ein Pachteigenossn, ick sahre: »Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht! – Sieh mal«, sachte der, »ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Ssahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn ’n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein … und denn ahms is Fackelssuch … es is alles so scheen einjeschaukelt«, sacht er. »Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!« Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!“

Frau Schmoll und ihre Intelligenz

Die FAZ ist sichtlich damit überfordert, halbwegs sinnvolle Artikel für die Titelseite zu finden. So schaffte es am Samstag die elitenversessene „Journalistin“ Heike Schmoll (bekannt durch ihr Buch „Lob der Elite: Warum wir sie brauchen“), ihren „fundierten“ Kommentar „Abitur ohne Wert“ auch jenen zugänglich zu machen, denen das Aufblättern dieser Zeitung nicht als lohnend erscheint.
Die Hochschulreife, deren Vergabe Ländersache ist, sei bundesweit nicht vergleichbar, so die dringliche Erkenntnis. Die Schulabsolventen aus verschiedenen Bundesländern legen Prüfungen von unterschiedlichem Niveau ab und sind daher verschieden gut auf ihr Studium vorbereitet.
Scholl sieht sich, weil man das Problem ja lokalisieren muss, noch an, wo denn die dummen Kinder wohnen. Die gebürtige Tübingerin entnimmt einer Studie, dass Baden-Württemberg das anspruchsvollste Abitur hat, Schleswig-Holstein hingegen niedrigere Erwartungen habe. Die Studie, erstellt vom Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), bezog sich nur auf Mathematik. Aber das ist nicht so schlimm, bilden doch Naturwissenschaftler die Elite. Studiert man so etwas wie Germanistik und Theologie, landet man ja doch nur bei der FAZ. Es gibt übrigens auch einen Zusammenhang zwischen den Matheergebnissen und dem Profil der Schule. Sie führt an, dass „Gymnasien mit naturwissenschaftlichem Profil am besten abschnitten, die mit ästhetischem Profil am schlechtesten…“ Gut, dass solch steile Thesen gut belegt sind.
Dann ergänzt sie noch beiläufig, dass das mit der Schule aber eh nicht so einfach sei, da Kids mit dummen Eltern selbst dumm bleiben:
„Auch wenn es lange Zeit bestritten wurde, ist inzwischen längst erwiesen, dass Lernleistung ganz wesentlich an Intelligenz gekoppelt ist. Mit anderen Worten: Bildungserfolge sind in hohem Maße „erblich“, denn Intelligenz wird vererbt. Niemand wird durch seine Umgebung begabt, sie kann allenfalls durch gezielte Anregungen schlauer machen – aber immer nur im Verhältnis zur vorhandenen Intelligenz.„
Wer das wie herausgefunden hat, ist vermutlich nicht so wichtig. Frau Schmoll hat vielleicht schon immer geahnt, dass es das elitäre Blut ist, das die Intelligenz transportiert. Es ist umgekehrt auch schön, seine eigene geistige Limitierung samt Aussetzern in Kommentarform den Eltern in die Schuhe schieben zu können. Wer sich mit Bildung befasst und nichts über die kindliche Lernkurve vor der Einschulung inklusive pränataler Prägung weiß, kann wohl nur zu dem Schluss kommen, dass spätere Diskrepanzen hinsichtlich Schulnoten angeboren sein müssen. Dass es Erfahrung und Nachahmung ist, was Kinder am meisten an ihre Eltern angleicht, kann natürlich nicht sein. So wäre die Elite vor die Herausforderung gestellt, sich mit ihren Bälgern zu befassen. Sie würde sich aufrappeln müssen, um Wissensdurst und Freude an Erkenntnis bei den Sprösslingen anzuregen. Auch müsste die menschliche Entwicklung in einem Spannungsfeld aus biologischen und sozialen Prozessen gegriffen werden, wobei Annahmen über lineare Zusammenhänge und Monokausalitäten einem Bewusstsein für die Verschränktheit von Genen und zwischenmenschlicher Erfahrung weichen müssten. Das einzelne Subjekt und seine Möglichkeiten ist Leuten wie Frau Schmoll seit je her egal. Das Kind bleibt Exemplar, bestehend aus Genen und Lehrplänen, wobei ersteres natürlich überwiegt. Und was den Nachwuchs angeht, lässt sich mit etwas elterlichem Geschick der Elite das eigene freie Kapital mittels Nachhilfe und einer helfenden Hand bei Studienarbeiten in die Kleinen binden, deren Abschlüsse ihren Platz in der Gesellschaft legitimieren.
Schmoll ist sich sicher, dass die Intelligenz, also das Resultat der IQ-Test und Mathe-Prüfungen, vollständig in den Genen schlummert. Hat das ein biologisches ThinkTank aus der Germanistin/Theologin Schmoll und dem Ökonomen Sarrazin herausgefunden? Auch das ist nicht wichtig. Schmoll, die augenscheinlich über so Profanes wie wissenschaftlicher Evidenz erhaben ist, weiß, dass ihre Vererbungsthesen einfach nur totgeschwiegen werden. So folgt im Artikel direkt auf die oben zitiert Passage das Sprüchlein der verkannten Erleuchteten:„Auch das ist inzwischen belegt. Es wird nur nicht gern gehört.“

Jacop Belbo

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-abitur-ohne-wert-13683485.html

Dorfgemeinschaft stören.

Am 1. Mai wird das beschauliche Dorf Tröglitz durch eine Demonstration daran erinnert werden, dass nicht jede Sauerei unbeachtet bleibt und rassistische Käffer sich nicht zur weltoffenen ländlichen Region umlügen lassen. Weitere Infos gibt es auf dem Blog zur Demo.

22.8. 16 Uhr – Kundgebung gegen Antisemitismus

Am morgigen Freitag findet ab 16 Uhr in der Augsburger Straße (Berlin) eine Kundgebung statt, deren Ziel es ist, auf das dramatische Anwachsen antisemitischer Gewalt hinzuweisen und Solidarität mit deren Opfern zum Ausdruck zu bringen. Im Folgenden ist der Aufruf dokumentiert:

Seit Anfang Juli erleben wir in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine Welle von anti-israelischen Demonstrationen, auf denen nicht selten offen antisemitische Parolen gerufen werden. »Jude, Jude, feiges Schwein« und »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« sind dabei nur zwei Beispiele von vielen. Auch die Plakate auf diesen Demos sprechen eine deutliche Sprache: »Stoppt den Holocaust in Gaza« und Israelfahnen, auf denen der Davidstern durch ein Hakenkreuz ersetzt wurde, sind dort beliebte Motive.

Im Zuge der Proteste gegen die erneute Eskalation im Gaza-Konflikt gab es auch zahlreiche Übergriffe auf Jüdinnen_Juden sowie Angriffe auf Synagogen. In Berlin kam es in den letzten vier Wochen zu mehreren antisemitischen Angriffen. So wurde am 19. Juli ein israelisches Paar am Rande einer Gaza-Demo in Berlin-Mitte attackiert. Am 24. Juli folgte ein weiterer Angriff in Charlottenburg auf einen Mann, der durch seine Kippa als Jude erkennbar war. Bereits am 7. Juli war ein Mann im Tiergarten angegriffen worden, weil er eine Mütze mit einem Davidstern trug. In Wuppertal kam es zu einem Brandanschlag auf die örtliche Synagoge. Auch auf europäischer Ebene ist Antisemitismus präsent. So gab es 2012 in Toulouse und 2014 in Brüssel Mordanschläge in jüdischen Einrichtungen, bei denen mehrere Menschen getötet wurden. Im Zuge der aktuellen Geschehnisse kam es im Pariser Stadtteil Sarcelles zu pogromartigen Ausschreitungen, bei denen ein jüdisches Geschäft niedergebrannt wurde.

Solche Attacken basieren auf dem Hass auf Jüdinnen_Juden und auf der antisemitischen Annahme, Jüdinnen_Juden seien ein einheitliches Kollektiv, das für die israelische Politik verantwortlich gemacht werden könne. Hierbei sind derzeit verstärkt islamistische Akteur_innen am Werk, die teilweise durch antisemitische Aufrufe in Moscheen in ihrem Handeln bestärkt werden. Erinnert sei hier beispielhaft an die Worte von Imam Bilal Ismail bei seiner Predigt am 18. Juli in der Al-Nur-Moschee in Berlin. Dort bat er Allah: »Vernichte die zionistischen Juden, sie sind keine Herausforderung für Dich. Zähle sie und töte sie bis auf den letzten.«
Wenn Joachim Gauck in diesem Zusammenhang dann von »importiertem Antisemitismus« redet, verkennt er, dass Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft nach 1945 nie richtig aufgearbeitet wurde und in beiden deutschen Staaten weiterhin alltäglich war. Dies äußerte sich beispielsweise in der Zerstörung von jüdischen Friedhöfen durch Neonazis oder der Leugnung der Shoah, also des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen_Juden. Weil es aber nach 1945 aufgrund der deutschen Schuld an der Shoah lange Zeit unmöglich war, offen gegen Jüdinnen_Juden zu hetzen, drückt sich Antisemitismus häufig in Bezug auf den Staat Israel aus. Dieser antizionistische Antisemitismus äußert sich dann zum Beispiel darin, dass Akademiker_innen Briefe an jüdische oder israelische Einrichtungen schreiben, in denen sie behaupten, das, was Israel den Palästinenser_innen antue, sei das gleiche, wie das, was die Nazis den Jüdinnen_Juden angetan haben.

Oft ist (nicht nur) diese Form des Antisemitismus mit Verschwörungstheorien verknüpft, die eine »jüdische Weltverschwörung« imaginieren. Dies zeigt sich aktuell bei den derzeitigen »Montagsdemos«, bei denen über »die Macht der Rothschilds« gefaselt wird. Am 4. August demonstrierten zudem Teilnehmer_innen der »Montagsdemo« in Berlin vor der Synagoge in der Oranienburger Straße gegen die israelische Politik. Dass Antisemitismus keineswegs Neonazis oder Verschwörungstheoretiker_innen vorbehalten ist, zeigte sich in den letzten Wochen noch einmal sehr deutlich. Er ist Teil der deutschen Gesellschaft. Er findet sich in Kolumnen der »Süddeutschen Zeitung«, in Karikaturen der »taz«, in Beiträgen von Politiker_innen verschiedenster Parteien und natürlich am deutlichsten am virtuellen und analogen Stammtisch. Linke Gruppierungen leisten den antisemitischen Tendenzen dabei zum Teil öffentlich Vorschub. Dass linke Organisationen mancherorts die Gaza-Demonstrationen organisierten, auf denen es zu Ausschreitungen und Angriffen kam, ist dabei ähnlich fatal, wie der Fakt, dass die meisten Linken zu den aktuellen antisemitischen Angriffen schweigen.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland fragte Ende Juli: »Warum gibt es keine Welle der Sympathie mit uns Juden?« und der Vorsitzende des Zentralrates, Dieter Graumann, sagte, viele jüdische Menschen seien so verunsichert, dass sie sich fragten, ob es wieder Zeit sei, die Koffer zu packen und Deutschland zu verlassen. Damit bezog er sich auf die Fluchtwelle der deutschen Jüdinnen_Juden während der Zeit des Nationalsozialismus.

Mit einer Kundgebung gegen Antisemitismus wollen wir ein Zeichen der Solidarität mit allen Jüdinnen_Juden setzen und rufen dazu auf, auch darüber hinaus Sympathie zu bekunden. Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der Jüdinnen_Juden sich nicht vor antisemitischen Attacken fürchten müssen und niemand Angst haben muss, in der Öffentlichkeit eine Kippa oder einen Davidstern zu tragen, kurz: eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sein können.

Kommt am 22. August 2014 um 16:00 Uhr zur antifaschistischen Kundgebung in die Augsburger Straße. Weitere Infos unter: gemeinsamgegenantisemitismus.blogsport.de (link is external)