Zur Kritik der Wachstumsgegnerschaft

Einladung zu einem ersten Treffen in Vorbereitung kritischer Interventionen

Anfang September diesen Jahres findet in Leipzig die vierte internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit statt. Die durch den Club of Rome populär gewordene Kernannahme dieser Strömung, grenzenloses Wirtschaftswachstum könne für die Umwelt nicht so recht gut sein, ist so trivial wie plump vereinfacht. Doch die Protagonisten tragen neben dieser noch einige krude Visionen durch Talk-Shows und Diskussionsabende. Durch einfache Modelle und romantischen Vorschläge rund um Subsistenz, Regionalwährung und Verzicht sind sie das zeitgemäß-attraktive Angebot für umweltbewusste Citoyens, denen „Konsum ohne Ende“ und Raubtierkapitalismus“ irgendwie unheimlich werden.
Wir möchten den gedanklich und ideologisch heterogenen Fundus der Degrowth-Bewegung untersuchen und veranstalten zur Vorbereitung ein offenes Treffen. Unser Ziel bis zur Konferenz sind kleine Artikel zu den ideologischen Facetten von degrowth und gegebenenfalls ein Flugblatt zur kritischen Intervention vor Ort. Hiermit möchten wir alle Interessierten einladen, dieses Anliegen in lockerer Runde zu diskutieren.

Arbeitskreis Zweifel und Diskurs

Ein erstes Treffen findet statt am Dienstag den 22.07.
um 18:30 Uhr im AstA-Plenarium der TU Berlin.

Den Ort findet ihr am besten anhand des Lageplans unter:
http://asta.tu-berlin.de/kontakt
Die ersten Überlegungen unsererseits sind nachzulesen unter:
http://zweifelunddiskurs.blogsport.de/category/degrowth/

Tucholsky und Tyskie statt Deutschtümmelei

Einladung zum germanophoben Spaziergang durch Moabit

Mit jedem Tor, das fällt, entlädt sich so einiges; abhängig von dem Typ der es schießt entweder der gemeinschaftliche Stolz auf das „eigene“ Team oder der Hass auf den kollektiven Gegner. Anstatt zähneknirschend den unsäglichen Lärm resigniert zu erdulden, möchten wir einen gemütlichen Spaziergang durch Moabit machen. Um nicht nur sprachlos trinkend Köpfe zu schütteln möchten wir die Abneigung gegen Deutschland forcieren und unsere Gedanken einem großartigen Nestbeschmutzer widmen: Kurt Tucholsky.
Während sich Unzählige die Farben Schwarz, Rot und Gold auf die Wangen malen, treffen wir uns am Sonntag vor dem Pamuk-Shop und stoßen an auf die marginale Kritik am deutschen Ungeist, den man eh nicht wird ignorieren können.
Diese Einladung richtet sich an jene, die dem Finale der WM nicht besser zu entgehen wissen, als Fragmente rund um die Ablehung von Staat und Nation zusammenzutragen und mit Leute, denen die Deutschtümmelei ähnlich wenig zusagt, ein Bier zu trinken. Vorbei an Tucholskys Geburtshaus, dem Gericht und der JVA wollen wir deutsche Zustände anprangern, um nicht allein zu resignieren. Wem solche Abgestaltung mehr zusagt als Public Viewing ist herzlichst eingeladen, einen kleinen Beitrag inhaltlicher Natur beizusteuern oder sich einfach zwischen Menschen zu flüchten, die nicht fragen, warum man im fröhlichen Patriotismus nicht fröhlich zu sein vermag.

Sonntag, 20:30 Uhr (pünktlich, weil wir ja dann los wollen)
vor dem Pamuk-Shop
Gotzkowskystraße Ecke Zwinglistraße

Degrowth 3 – Auf zu neuen Paradigmen des Immerselben?

Im Frühjahr 1987 veranstaltete die Evangelische Akademie Arnoldshain eine Tagung zum Thema „Ökonomie und Zeit“, deren wohl berühmtester Teilnehmer, Nicolas Georgescue-Roegen, seine Gedanken zur Entropie in der Ökonomie vorstellte. Sein Hauptwerk The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect ist eines der theoretischen Fundamente von degrowth.

Im April 2014 lud die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt zu einer Tagung in Wittenberg mit dem Titel „Ars vivendi – Die Kunst zu leben. Vom bewussten Umgang mit begrenzter Zeit“, bei welcher heutige Verfechter der Postwachstumsökonomie wie Gerrit von Jorck sprachen. Und bereits die Einladung zeigt auf, dass es um „verändertes Konsumverhalten oder neue Formen der Beteiligung am Erwerbsleben“ gehen soll. Zeit wird herausgegriffen als Perspektive, mit der man sein eigenes Dasein durchdenken soll. So geht es um Zeitmanagement, Freizeit, gar Muße un Meditation. Als „Zeitpionier“ wurde der VWL-Primus Gerrit von Jorck dargestellt, den der Spiegel porträtierte, weil er trotz tollem Abschluss nicht so viel arbeiten will wie Seinesgleichen. Er lebte einige Zeit von 500 € im Monat, durch wöchtlich 10 Stunden Arbeit beim Berliner Institut für ökologische Wirtschaftsforschung statt Arbeitslosengeld. Inzwischen hat er sich das anders überlegt, geht die doppelte Zeit für das doppelt Geld arbeiten und betätigt sich nebenbei als „Freiberufler“. Der Spiegel war begeistert von von dem jungen Mann, der „mit dem Fahrrad und nicht mit den Bahnen führt“ und „abends höchstens mal zwei Bier in der Kneipe trinkt, statt Cocktails in der Szenebar“. Er verzichtet fleißig, wo es nur geht und sich das Bisschen, was er braucht fair erarbeitet. Ein Student, der sich für gerade mal 12,50€ aus dem Bett quält, um an seiner Passion herumzuforschen und trotz Semesterticket die U-Bahn meidet, um sich nicht am Abrieb der Bremsen zu beteiligen. Wow. Den freiwilligen Verzicht abzufeiern, wo doch „im Supermarkt die Billig-Marken such[en]“ für viele Menschen völlig normal und für nicht wenige die materielle Not der Alltag ist, erscheint weder dem Spiegel noch den Tagungsveranstaltern als geschmacklos. Dass es manchen nicht vergönnt ist, nach freiem Ermessen die in Lohnarbeit investierte Zeit frei nach den individuellen Ansprüchen zu skalieren, weil sie trotz Schufterei nicht mit dem Arsch an die Wand kommen, kommt keinem der ökologisch engangierten Zeitdurchdenker in den Sinn. Vielmehr schlagen sie sich auf die Seite von beispielsweise Sarkozy, der „das Glück“ als neuen Indikator für Wohlstand bemühen möchte, um objektives Elend zu verschleiern.

Damals wie heute ist eine Evangelische Akademie der richtige Ort, um für asketisches Leben und tatkräftiges Engagenement zu werben. Nur hatte sich Georgescue-Roegen nicht die Zeit zum Thema genommen, sondern wollte einen „Paradimenwechsel“ durch eine Parallele in die Physik herbeiführen. Lang und breit erklärt er in The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect den Begriff der Entropie, behauptet, für die Wirtschaft gelte der zweite Hauptsatz der Thermodynamik auch, macht sich mit dieser Erkenntnis über seinen Genossen Herman Daly lustig, der mit seiner steady-state-economy irgendwann ja doch die Ressoucen aufbrauchen würde und fordert konsequente Sparsamkeit mit Rohstoffen und Energie.

Die Entropie beschreibt zunächst die Anzahl möglicher Zustände, welche Teilchen einnehmen können. In einem Kristallgitter (z.B. Eis) sind die Teilchen relativ stark an ihren Platz in der Struktur gebunden, man spricht von geringer Entropie. Bei Wärmezufuhr bewegen sich die Teilchen mehr und mehr, sie lösen sich aus der Struktur – die Entropie steigt an. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt nun, dass die Entropie in einem geschlossenen System nicht abnehmen kann. Das heißt, Energie nimmt zwangsläufig Formen an, in denen Sie nicht mehr nutzbar ist. So führen alle mechanischen Prozesse aufgrund von Reibung oder Stößen zur Umwandlung mechanischer Energie in thermische. Das Perpetuum Mobile zweiter Art, welches die Ozeane um wenige Kelvin abkühlen und daraus enorme Mengen nutzbarer Energie schöpfen könnte ist unmöglich.

Georgescue-Roegen wendet diese physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf die Ökonomie dahingehend an, dass er Produktion und Konsumtion als Umwandlung nutzbarer Energie und Ressourcen in Wärme und Müll fasst. Selbst Recycling von Stoffen und Solarenergie sind für ihn kein Ausweg, da faktisch in vielen Prozessen eine irreversible Abnutzung stattfindet (z.B. Getriebeabrieb, Rost) und die Solarenergie wiederum einen Aufwand an Energie und Stoffen erfordert. Er griff damals mit diesen Thesen einen Zeitgeist an, der auf Technologie als Allheilmittel setzte und die Ansicht vertrat, dass mit genügend Aufwand an Arbeit und Equipment jegliche Knappheit zu lösen seien. Es werden also zwei verschiedene Vorstellungen von ökologischem Wirtschaften deutlich: Die einen gehen von reversiblen Prozessen aus, malen sich eine Welt aus, in der alles durch Recycling und Solarenergie in umweltverträglichen Kreisläufen zirkuliert und nennen das dann Cradle-to-cradle. Die anderen folgen dem Georgescue-Roegens Entropiemodell und forcieren die strikte Sparsamkeit mit Energie und Ressourcen, deren problemlose Reproduktion nicht gewährleistet ist.

Mit dem Titel The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect assoziierte ich spontan Endzeitvisionen, die dem Kapitalismus immanente Mechanismuen zur Selbstzerstörung attestieren. (In Konkret 7/2014 stellt Rainer Trampert einige Zusammenbruchstheorien vor, denen man nur zu gut eine hinkende Übertragung physikalischer des Entropiekonzepts auf den Kapitalismus unterstellen könnte.) Georgescue-Roegens Aussagen hängen jedoch nicht im geringsten mit der Vermittlung zusammen, für den Physiker ist hier das Produkt ausschließlich Produkt und nicht Ware. Der geforderte Paradigmenwechsel ist ebenso losgelöst von der Gesellschaftsform. Doch der Verzicht auf eine einhergehende Kapitalismuskritik macht den Mann weit sympatischer als die sich auf ihn berufenden Freunde der Regionalwährung.

J.Belbo

Vortragsankündigung: Bettina Fellman – Ein Bericht von der Akademie

Am 29. Juni2014 um 19.30 Uhr im Laidak

Philosophieren im Stande allgemeiner Unmündigkeit – ein Bericht von der Akademie.

Was es bedeutet, wenn Geistesmenschen sich zusammenfinden, um von Geistigem zu sprechen, warum nichts Wahres dran sein darf und wie die Wirklichkeit dem Denken nur zur Illustration dient, beleuchtet dieser Vortrag.
Im allgemeinen wird an der Akademie bereits der Gedanke vom richtigen Denken formal erstickt; nicht zu schweigen davon, dass der richtige Gedanke oder das Denken vom Wirklichen keine Erwiderung findet, sondern im Gegenteil rigoros ausgeschlossen wird. Unter diesen Bedingungen erscheint nicht nur der Versuch, das Besondere zur Sprache zu bringen, als zweifelhaft, sondern Sprache überhaupt. An dem Umstand, dass er längst gedacht wurde, erweist sich nicht der Gedanke als falsch, sondern die allgemeinen Mechanismen, die sich durch die Epochen hindurch grundlegend ähneln — im Gewand der jeweiligen Zeit, deren Besonderheit es vor den Allgemeinheiten zu erfassen gilt, die ihren Grund bilden.
Ansatzweise wird eingegangen auf die Unfähigkeit, Zusammengehöriges und Grundverschiedenes im richtigen Verhältnis zueinander wahrzunehmen und adäquat zu beurteilen, auf die Virtualisierung menschlicher Verkehrs- und Ausdrucksformen und nicht zuletzt auf die verheerende Sehnsucht, sowohl durch das Aufgehen im Denken ans Bestehende anschließen, als auch umgekehrt durch den Anschluss ans Bestehende im Denken aufgehen zu können.

Degrowth 2 – Der Ruf nach dem natürlichen Gleichgewicht als Aufschrei gegen die Zersetzung der Dorfgemeinschaft

Gar unübersichtlich sind die Freunde der Schrumpfung. Eine Menge von Aussagen oder Haltungen als monolithischen Korpus der Degrowth-Bewegung zu fassen geht fehl. Die Konzepte und Strategien sind vielschichtig und widersprüchlich, das grobe Gerüst geht kaum hinaus über die Analyse, die schon mit „The Limits of Growth“ artikuliert war: die Menschheit beeinträchtigt ihre Umwelt in gravierender Weise. Seit Jahrzehnten passiert dies in wachsendem Maße, sowohl hinsichtlich des Verbrauchs von Ressourcen, als auch bezüglich Störung biologischer Vorgänge durch toxischen Abfall. Diese Zersetzung des Lebensraums als enorme Gefahr auszumachen und dagegen angehen zu wollen, ist nur zu gut verständlich. Doch diesem Ausgangspunkt entspringt ein Vielzahl von Strategien und Entwürfen, die durch den löblichen Anspruch nicht zwingend gefahrlos sind.
Der Degrowth-Bewegung ist eine gewisse Feindlichkeit gegenüber Luxus nicht fremd. Eine wiederkehrende Figur im Postwachstumsdiskurs ist der „übertriebene Wohlstand“ der westlichen Industrienationen, in denen der unnütze Konsum auf ein untragbares Level angewachsen sei. Glücklicher mache dieser nämlich niemanden, da die Bedürfnisse gesättigt und der Konsum das Wohlbefinden kaum noch steigere. Wenn Niko Paech Schwellenländern ein Wirtschaftswachstum zubilligt, seinen Nachbarn hingegen die Smartphones streitig machen will, setzt er ein fixes, anzustrebendes Niveau von Konsumtion und Produktion. In Vorträgen präsentiert er diese Vorstellung eines gesunden Equilibriums durch eine horizontale Gerade, der sich von oben Industrienationen, von unten Entwicklungsländer annähern müssen.

niko
Auffällig häufig dienen „wir hier in Deutschland“ oder „wir Deutschen“ als Code für eine Gemeinschaft mit einem Lebensstil auf hohem Produktionsniveau, welches es nun abzubauen gilt. Das soll zweigleisig geschehen: durch den notwendig miteinander einhergehenden Rückbau von Industrie und Verzicht auf Produkte der Industrie, was Paech „Suffizienz“ nennt sowie durch Ausbau von Selbstversorgung „ohne Geld, Globalisierung und Arbeitsteilung“, also Subsistenz. Der zentrale Übeltäter ist für Paech die stark differenzierte Arbeitsteilung mit ihren langen Produktionsketten und Transportwegen. Er ist in seiner Globalisierungsfeindschaft nur konsequent, wenn er für die Produktion in kleinen dörflichen Assoziationen und die nachbarschaftliche Distributionen qua Regionalwährung plädiert. Die Deutschen sollten sich also auf das höhere Ziel besinnen, sich von Weltmarkt und Luxus abgrenzen und endlich, als Dorfgemeinschaft, das richtige Leben beginnen. Das Wort global benötigt er nur in Bezug auf die Schadensdimensionen. Hinsichtlich der Handlungsoptionen ist Deutschland als Rahmen schon fast zu groß und vermutlich zu abstrakt. Die Vision gemütlicher Gemeinden mit Regionalwährungen klingt nicht nur zufällig nach der Kleinstaaterei zum Ende der Feudalzeit, die noch nicht den mit „civic nation“ assoziierten hohen Grad an Vermittlung kannte.
Die personifizierten Feinde im hier und jetzt sind die „Zombies“, die mit „Einwegkaffeebecher und zukünftigem Elektroschrott“ in das Blickfeld des aufgewühlten Asketen kommen. Denn sie sind es, die die Gemeinschaft weiter auf die Apokalypse zutreiben, statt den Garten nebenan zu bestellen. Ihm ist unbegreiflich, wie Menschen sich lieber neue Hemden aus den USA bestellen und bei kanadischem Whisky ihr Deutschtum und ihr Heimatdorf vergessen.
Der Vortrag, aus dessen Mitschnitt der Autor Aussagen Paechs entnahm, wurde auf dem Zukunftstag der Evangelischen Jugend Oldenburg gehalten. Dass er mit dem Fahrrad anreisen konnte, war vermutlich nicht der einzige Grund für ihn, die Einladung wahrzunehmen. Die Sorge um die Umwelt und der ehrbare Verzicht erscheint als säkularisierter Protestantismus. Luther zwang den Gläubigen den Fleiß und die Genügsamkeit auf. Die Intention der Protestanten ist dabei die Hoffnung auf die Gnade Gottes, die individuelle Vergebung der unabwendbaren Schuld. In der Postwachstums-Variante stellt sich das Leben als nicht geringere Buße dar, jedoch ist der Gott herabgeholt und wieder der Natur zugewiesen. Doch während der Religiöse die Erlösung nach einem gottesfürchtigen Leben selbstbezogen erwarten darf, ist das Heil für den Klimaschützer Paech an die Mitarbeit aller geknüpft. Die Folgelosigkeit der eigenen Mühen sind ihm nur all zu bewusst, die Hoffnung auf breite Beteiligung nahezu verworfen. Es bleibt für ihn nur die bissige Rolle des ungehörten Warners, der die Apokalypse kommen sieht, doch keinerlei Engagement seiner Mitmenschen initiieren kann.
Paech ist entrüstet über die fehlende (Verantwortung stiftende) Identifikation des einzelnen Menschen mit seiner Gattung. Doch statt die Ursachen für diese generelle Haltung ergründen zu wollen, beschränkt er sich auf die trotzige Forderung, jeder solle gefälligst sparen. Der Widerspruch zwischen dem Unterlassen bewusster Umweltschädigungen und eigenem materiellen Auskommen existiert erst durch das Kapitalverhältnis als zweiter Natur, zu dessen Schutz die Menschen antreten, anstatt es als Quelle der Entfremdung des Menschen von der Menschheit aufzuheben.marx

„Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus Humanismus, als vollendeter Humanismus Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflosung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (Karl Marx – Ökonomisch Philosophische Manuskripte)

J. Belbo

­Degrowth 1 – Was wollt Ihr denn?

Es ist kein umgehendes Gespenst, sondern ein radelnder Asket. Niko Paech ist Professor für Ökonomie an der Uni Oldenburg, spielt Saxofon in einer Band, hat kein Auto und benennt bei jeder Gelegenheit den wahren Hauptfeind: Das Wirtschaftswachstum. Die deutsche Variante der degrowth-Bewegung hat in ihm die passende Gallionsfigur gefunden.

Niko Paech
Die Krise ist systemimmanent. So lautet die Binsenweisheit der Kapitalismuskritiker. Die Konkurrenz erzwingt stets Expansion, was auf kurz oder lang zur Marktsättigung führt. Die sich stetig verschärfende Konkurrenz löst sich durch survival of the fittest und das Produktionsvolumen schrumpft.
Die great depression von 1929 zeigte erstmals, dass die Wirtschaft und mit ihr die Krise zur internationalen Verflechtung herangewachsen war. Nach dem Aufschwung der Goldenen Zwanziger folgte die bis zum Zweiten Weltkrieg währende Rezession samt Firmenpleiten und Massenarbeitslosigkeit. Ein Jahr vor der zweiten globalen Krise, die 1973 durch den Jom-Kippur-Krieg angestoßen wurde, legte der Club of Rome die Studie „The Limits of Growth“ vor. Mit Hilfe von Computermodellen wurden perspektivische Entwicklungen der Wirtschaft, der Bevölkerungszahl und der Umwelt prognostiziert. Die Extrapolation ergab die drohende Apokalypse in 100 Jahren.
Aus der Forderung nach ökologischer und langsam wachsender Wirtschaft entstand (vor allem in Frankreich, Italien und Spanien) die degrowth-Bewegung. Als Begründer gilt der rumänische Mathematiker Nicholas Georgescu-Roegen, der in seinem Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process in Retrospct“ die Ökonomie kybernetisch zu fassen und mit Begriffen der Thermodynamik zu interpretieren versucht. So wie die Entropie in einem System nicht über ein Maximum hinausgehen kann, erreiche laut Georgescu-Roegen auch das Wirtschaftswachstum irgendwann seine Grenzen.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008ff. wächst die Bewegung der Wachstumsgegner. Nachdem der eher plump anmutende Protest von Occupy verhallt ist, stellt sich degrowth als innovative Heilslehre dar und trifft dabei vor allem bei ökologischen Citoyens auf immensen Zuspruch. Das charismatische Gesicht der Bewegung ist Niko Paech. Der sich selbst als Postwachstumökonom Deklarierende tingelt durch „kritische“ TV-Shows, redet bei „kritischen“ Vorlesungsreihen und bekommt laut eigenen Aussage ab und an Anfragen, ob er die Post in Sachen Expansion beraten könne.
Die zugehörige deutsche Bewegung lädt in diesem Jahr die internationale degrowth-Gemeinde zur vierten degrowth-Konferenz nach Leipzig. Als „Organisator_innen“ sind unter anderem die Universität Leipzig (die ihr kritisches Vermögen letztens durch die ausschließliche Verwendung weiblicher Formen in der Unibürokratie präsentierte) und das DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Universität Jena angegeben.
Die Krise ist also systemimmanent. Fraglich ist nur, was als „das System“ verstanden wird und was jenseits dessen liegen soll. Da auch schon mal Vorträge zu „nachhaltigem Eigentum“ gehalten werden kann der Kapitalismus, als dessen grundlegende Voraussetzung Marx das Privateigentum erkennt, wohl kaum gemeint sein. Hört man Niko Paech von lokaler Herstellung und kurzen Produktionsketten schwärmen, deren Waren den anderen höchstens über kuschelige Regionalwährungen zur Verfügung gestellt wird, so drängt sich die Frage auf, welcher Bestandteil dieses ideologischen Fundus ernstgenommen werden soll.
Die Bewegung ist derzeit noch heterogen: Von Zeitschriften, die teils wie eine grün gefärbte brand eins wirken, bis hin zu selbstgebastelten Readern und Flugblättern reichen die Formen der Vorschläge zum ökologischen Wandel. Vorgebrachte Konzepte gehen von Produktion und Konsumption in Stoffkreisläufen, über DIY-Traktoren für den Subsistenzgarten bis hin zu Skype statt Fernreise.
Um das krude Gewirr zu lichten, stellt Zweifel und Diskurs einzelne Fragmente der Bewegung gegebenenfalls samt ihres theoretischen Überbaus in einer kleinen Artikelserie vor.

J.Belbo

Luther und die Juden


Freitag, 21.02.2014
19 Uhr
Kirchliches Forschungsheim
Wilhelm-Weber-Straße 1a – 06886 Wittenberg

Hinweis: Die Veranstaltung wurde von der Evangelischen Akademie in das Kirchliche Forschungsheim verlegt.

Ankündigung einer Veranstaltung mit zwei Vorträgen zu Luthers Judenhass und dessen Bedeutung für den Protestantismus

Seit 2008 läuft im Vorfeld des 500. Jubiläums von Martin Luthers Thesenanschlag die sogenannte Lutherdekade. Innerhalb dieser zehn Jahre wird sein Wirken ausgiebig gewürdigt, gepriesen und verklärt. Die Präsenz des Reformators im Stadtbild der Lutherstadt Wittenberg wird weiter intensiviert. So wurde beispielsweise ein Luthergarten angelegt, dessen Zentrum Luthers Familienwappen bildet. Nicht nur dominiert er den öffentlichen Raum, auch als moralischer Mahner im Alltag wird Luther verwendet: Auf Containern klebt sein Konterfei über der Aufforderung, den Müll ordnungsgemäß zu entsorgen, um die Touristen nicht zu verschrecken.
Für die Wittenbergerinnen und Wittenberger ist Luther identitätsstiftend. Mit ihm identifizieren sie sich, wenn das ZDF unter dem Titel „Unsere Besten“ nach den wichtigsten Deutschen fragt und er auf Platz zwei landet. Luther ist nicht nur Gallionsfigur der evangelischen Kirche, sondern ist auch unabhängig von ihr zentraler Bezugspunkt der Stadt Wittenberg. Er ist der Beleg dafür, dass die Stadtgemeinschaft so irrelevant ja nicht sein könne.
Die Staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“ gestaltet den Hype aus. Die einhergehenden Veranstaltungen „wollen zeigen, dass die Lutherdekade – neben der Reflexion des Christseins – auch ein Grund zum Feiern ist.“ Da das Spektakel zu groß angelegt ist, um jeglichen Inhalt auszublenden, will man „Martin Luther, seinen Glauben und seine Ideen weiter erforschen“. [Zitate von http://www.luther2017.de/7427-die-lutherdekade-luther2017-500-jahre-reformation].
Auf ihrer Internetpräsenz finden sich, diesem Anspruch folgend, allerlei Informationen um und über Luther.
Wer nach Hintergrundinformationen zu Luthers Haltung gegenüber Juden sucht, gelangt zu einem Text, der im Folgenden zur Motivation einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema herangezogen wird.
[ http://www.luther2017.de/en/22477/jesus-christ-was-born-jew-%E2%80%93-martin-luther-and-jews – Die deutsche Fassung ist seit kurzem nicht mehr erreichbar.] Der pensionierte Pfarrer und Religionslehrer Hanns Leiner betätigt sich hier als Verteidiger des Reformators. Nach der üblichen Distanzierung vom Spätwerk wird zunächst der historische Kontext festgestellt:

„His anti-Jewish statements were connected to the general Christian anti-Judaism of the Middle Ages since the crusades. We find similar and even more extreme words uttered by his adversaries, for example Johannes Eck from Ingolstadt. Not even Erasmus of Rotterdam, a man who stands very much for religious tolerance, was free from this attitude. It also was not a specifically German thing. During the previous centuries, the countries of Western Europe had dispelled all Jews from their lands […].“

Hier stellt er zunächst klar, dass damals alle irgendwie mehr oder minder judenfeindlich waren. Dazu kommen dann noch Luthers schlechte persönliche Erfahrungen. Offensichtlich kann man dem Vorwurf des Antisemitismus nicht nur mit Beteuerung der persönlichen Freundschaft zu Juden begegnen, sondern auch mit persönlicher Feindschaft entschuldigen. Im Wissen dieser Faktoren kann der Autor dann doch Empathie aufbringen:

„If one also takes into consideration the difficult situation of the Protestant church in the 1540s, Luther’s age and his numerous health problems, as well as his end-time mood, one finds many reasons that will by no means justify his harsh tone, but nevertheless make it appear as more comprehensible.“

Ganz besonderen Wert legt Leiner darauf, dass Luther nie zum Mord an Juden aufrief. Außer halt in den Tischreden, wo es heißt:

„Ein anderer erzählte viel von den Gotteslästerungen der Juden und fragte, ob es einem Privatmann erlaubt sei, einem gotteslästernden Juden einen Faustschlag zu versetzen. Er ( nämlich Luther d. V.) antwortete: Ganz gewiss! Ich wollte einem solchen eine Maulschelle geben. Wenn ich könnte, würde ich ihn zu Boden werfen und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Da es nämlich nach menschlichem und göttlichem Recht erlaubt sei, einen Straßenräuber zu töten, viel mehr einen Gotteslästerer.“
(Tischrede vom Frühjahr 1543. Nr. 5576. WA TR 5.257,11-31. zit. bei Bienert, Walther (1982). Martin Luther und die Juden. Frankfurt a. M.: Evangelisches Verlagswerk, S.172)

Von den Juden und ihren Lügen
Bildquelle: Wikimedia
Alles in allem, findet Leiner, seien Luthers Äußerungen über die Juden scharf zu kritisieren. Aber auf der anderen Seite wusste Luther, anders als viele in unseren heutigen, relativistischen Zeiten, zumindest woran er glaubte und wofür es sich lohnte, zu kämpfen:

„For us today, who have been infected by the modern relativism of truth, Luther may even become a role model here. He knew what he believed and was ready to fight for it and to defend it against possible objections and disputes.“

Abgesehen von diesem außergewöhnlich kruden Abschluss, ist diese Darstellung exemplarisch für den derzeitigen Umgang mit Luther, der zur ausstrahlungskräftigen Ikone stilisiert wird, ohne dass eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet.
Um Einwände gegen den rein apologetischen Bezug auf Luther vorzubringen, lädt der Arbeitskreis Zweifel und Diskurs ein zu einem Abend über Luthers Judenhass und dessen Bedeutung für den Protestantismus. Zum Thema sprechen werden Andreas Pangritz (Universitätsprofessor für Systematische Theologie in Bonn) und Jörg Finkenberger (Jurist und Rechtshistoriker).

Zum Vortrag von Prof. Dr. Andreas Pangritz:

Léon Poliakov schreibt in seiner Geschichte des Antisemitismus über Martin Luther: „Im Antisemitismus … zog das religiöse Motiv, die Rechtfertigung durch den Glauben, eine Ablehnung der Werke nach sich, jener Werke, die unzweifelhaft jüdischer Prägung sind … Muß vielleicht ein wirklicher Christ, der seinen Gott in der Weise eines Martin Luther anbetet, nicht schließlich unvermeidlich die Juden aus ganzer Seele verabscheuen und sie mit allen Kräften bekämpfen?“
Sollte Poliakov recht haben, dann wäre an das Christentum zumindest in seiner lutherischen Variante die kritische Frage zu stellen, wie es sich zu Luthers Antisemitismus stellt. Luthers aggressiv judenfeindliche Spätschriften wie z.B. „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) sind berüchtigt; sie konnten von den Nationalsozialisten problemlos als Begründung für ihren „Erlösungsantisemitismus“ – Erlösung durch Vernichtung der Juden – in Anspruch genommen werden.
Dennoch hat sich lutherische Theologie im allgemeinen dagegen gewehrt, Luther als Antisemiten zu bezeichnen. Dabei wird großer Wert auf die Unterscheidung einer religiös begründeten Verachtung gegenüber den Juden, die man dann Antijudaismus nennt, von dem modernen, rassenbiologisch begründeten Antisemitismus gelegt. Auch wird betont, dass der jüngere Luther in seiner Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) eine eher judenfreundliche Haltung gezeigt habe.
Der Vortrag wird anhand von Luthers sog. „Judenschriften“ erneut die Frage aufwerfen, wie Luthers Stellung gegenüber den Juden einzuschätzen ist: Wie ist die Judenfeindschaft bei Luther theologisch begründet? Kann und muss sein Judenhass als Antisemitismus bezeichnet werden?

Zum Vortrag von Jörg Finkenberger:

Luthers Judenhass ist an seinem Werk nicht eine Nebensache, sondern reicht in den Kern. Das wirft weitgehende Fragen auf. Wie kann eine Reformation des Christentums gedacht werden ohne Hass auf die Juden? Wie tief steckt der Judenhass im Christentum, und in den christlich geprägten Gesellschaften? Alle seitherige Geschichte hat wenig Anlass zur Hoffnung gegeben. – Die Wurzeln des Judenhasses im Christentum rühren an Grundsätzlichem. Christlicher Antijudaismus macht an der hartnäckigen Verweigerung der Juden fest, was allgemein der Fall ist: Die verheißene Erlösung ist nicht eingetreten. Die Verschiebungen, die die ausgebliebene Erlösung im Bau der christlichen Kirche erzwungen hat, treten in Widerspruch zu den inneren Inhalten des Glaubens. Die Reformation war angetreten, auf diesen Widerspruch zu reagieren. Das Misslingen der Reformation ging einher mit radikaler Eskalation des Judenhasses. Wie tief muss die Kritik der christlichen Religion ansetzen? – Zu allem Unglück scheinen die Kriterien der Religionskritik, die im Anschluss an die Aufklärung entwickelt worden sind, von derselben Schwäche befallen. Das Verhältnis der Junghegelianer zum Judentum erweist sich bei näherem Zusehen als das Selbe wie das des von ihnen kritisierten Christentums. Von wo aus kann der Ausweg gefunden werden? Wie können die Begriffe der Theologie in ein richtigeres Verhältnis zueinander gesetzt werden?

Die Veranstaltung findet am 21. Februar 2014 im Kirchlichen Forschungsheim, Wil­helm-​We­ber-​Stra­ße 1 in 06886 Wittenberg statt. Beginn des ersten Vortrags ist 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.