Anlass für diese Veranstaltung zu Trauer und Melancholie ist die omnipräsente Abwehr und Pathologisierung dieser Empfindungen. Das Leid des Einzelnen in der kapitalistischen Gesellschaft wird zu dessen Schwäche verkehrt. Es resultiert daraus die Forderung zur Selbstoptimierung, zur Überwindung der angeblichen ‚eigenen Unzulänglichkeit‘. Im Gegensatz dazu möchten wir hervorheben, dass die Fähigkeit zur Traurigkeit notwendig ist, um Kritik überhaupt entfalten zu können; Kritik an Verhältnissen, die Menschen (an sich) zerbrechen lassen. Im Gegenzug ermöglicht erst diese Kritik ein Bewusstsein zur Abgrenzung gegen die gesellschaftliche Totalität. Erst mit diesem aus der Reflexion hervorgehenden Abstand kann der Einzelne die Fähigkeit zur Erfahrung der Emotionen wieder erringen. Aufgrund des gegenseitigen Sich-Bedingens von Erfahrung und Erkenntnis, Empfindung und Begriff, ist die Traurigkeit gegen jeglichen Angriff zu verteidigen!
Bettina Fellmann wird kurz in die Begriffe von Philosophie und philosophischem Denken, sowie Wert und Verwertung einführen. Vor diesem Hintergrund soll die besondere Paradoxie entfaltet werden, die im Mangel einer adäquaten menschlichen Reaktion auf den maßlosen Schrecken der Gegenwart liegt. Aus diesem Schrecken erwächst keine Trauer, der die Einzelnen Ausdruck zu verleihen suchen, sondern massenhafte Stumpfheit und Kälte, die eine relativ reibungslose Anpassung an die herrschenden Gegebenheiten ermöglichen. Zur Verteidigung der Traurigkeit soll der Zusammenhang von Anpassung, Entfremdung und dem Verlust von Erfahrung dargestellt werden.
Martin Dornis wird zur Rezeption von Trauer in der Musik sprechen. Anhand der Sinfonien Gustav Mahlers soll der Kontrast zwischen kollektiver und individueller Trauer und das durchaus berechtigte Streben nach authentischer Emotionalität diskutiert werden. Unter Bedingungen totaler Vergesellschaftung, als deren künstlerische Reflexion Mahlers Musik interpretiert werden kann, erweist sich aber alles authentisch und unmittelbar Erscheinende als die konkrete Erscheinung des abstrakten Vermittlungszusammenhangs, somit letztlich als Fabrikat der falschen Gesellschaft. Weder steht ‚hinter‘ der angedrehten, inszenierten und veranstalteten Trauer eine ‚echte‘ oder ‚eigentliche‘, auf die sich zurückgreifen ließe, noch geht jedes Gefühl restlos im Bestehenden einfach auf.
Unkostenbeitrag: 2€
29.09.2012 – 13 bis 18 Uhr
KirchlichesForschungsheim
Wilhelm-Weber-Str. 1a
Lutherstadt Wittenberg
Flyer zur Verteidigung der Traurigkeit als pdf
Einleitung zum Referat Bettina Fellmanns
Zur ‚Verteidigung der Traurigkeit‘ wird Bettina Fellmann in die begrifflichen Voraussetzungen von Philosophie und philosophischem Denken einführen, sowie kurz auf Wert und Verwertung unter den Bedingungen der entfalteten Massenproduktion eingehen, die die Grundlage des gegenwärtigen Verhältnisses von Bewusstsein und Sein darstellen.
Vor diesem Hintergrund wird versucht werden, die Paradoxie begreiflich zu machen, die darin besteht, dass aus dem maßlosen Schrecken der Gegenwart keine ebenso maßlose Trauer der Einzelnen erwächst und ihren Ausdruck findet, sondern im Gegenteil eine massenhafte Stumpfheit, die eine Anpassung an die Gegebenheiten ermöglicht und diese in der bruchlosen Anpassung immer weiter reproduziert.
Vom Allgemeinsten, der abstrakten Herrschaft totaler Verwertung, soll – stets im Bewusstsein der wechselseitigen und unauflöslichen Bedingtheit – an das Besondere herangeführt werden:
Die Erfahrung der Welt, die unmittelbar auf der leiblichen Empfindung beruht, wurde den Menschen unter der „zeitlosen Folge von Schocks“ [1] so grundlegend ausgetrieben, dass subjektives Erleben nur noch als objektiv vermitteltes auftritt. Anders als in der Identifikation mit dem Allgemeinen, das die Einzelnen in allen Facetten widerspiegeln, scheint die zur reinen Reproduktion des Nichts verdammte Existenz nicht mehr aushaltbar. Identifikation aber bedeutet das Gegenteil individueller Entfaltung. Wer dieser Selbstauslöschung ernsthaft sich entgegenstellt, den werden nach und nach in der bewussten Entscheidung, sich dem Herrschenden nicht anzupassen, die Widersprüche zerreissen. Vor diesem Ausgesetztsein gibt es keine Rettung.
Aber nur, indem die schreckliche Erfahrung nicht verdrängt wird, gewinnt der Einzelne die einzig noch denkbare begrenzte Souveränität zurück.
Davon ausgehend wird der Zusammenhang zwischen Anpassung, Entfremdung und dem Verlust von Erfahrung dargestellt werden.
Selbst dort, wo man noch ahnt, dass sie es nicht ist, wird Traurigkeit als Schwäche erlebt, denn dem Zwang, sich anzupassen, kann niemand sich erfolgreich entziehen, der in der Gesellschaft überleben will. Diese ständige Erfahrung, die einer glückenden Vermittlung der eigenen Erkenntnis mit der Wirklichkeit entgegensteht, wirft den Einzelnen in einen ständigen unauflöslichen Konflikt, dessen offene Austragung er unmittelbar zu vermeiden suchen wird, denn die Auseinandersetzung ist unweigerlich verbunden mit einer spürbaren tiefen Kränkung dessen, was als Ich begriffen wird, dem Schmerz der innerlichen Zerrissenheit, und auch dem Verlust einer wie auch immer empfundenen Verbundenheit mit der äußeren Welt.
Wer trotz allem aber im je eigenen möglichen Maße zur Erfahrung finden möchte – ohne sich darüber Illusionen zu machen, je sich von den Bedingungen lösen zu können -, der hat keine andere Wahl, als sich neben der kritischen intellektuellen Auseinandersetzung mit dem, was ihm äußerlich begegnet, als auch mit dem, was sich innerlich in ihm auftut, den Empfindungen zu stellen, die ihn angesichts der realen Bedeutung dessen, was er erkennt, überkommen.
Denn „die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet.“ [2]
[1] In: Detlev Claussen: Theodor W. Adorno – Ein letztes Genie, S.21, Fischer 2005
[2] Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S.228, Suhrkamp 2003